Es ist neun Uhr morgens. Die Petroleumlampe über unserem Salontisch
flackert friedlich vor sich hin und strahlt eine gemütliche Wärme
aus. Draussen ist es grau und regnerisch, und für unsere Verhältnisse
ziemlich kühl. Wir haben die letzten zwei Jahre in den oder nahe
der Tropen verbracht. Mittelmeer im Sommer, Rotes Meer, Kenya, Tansania,
Zululand. Da empfindet man eine Temperatur von 15 Grad auf einmal als
kalt. Wir sitzen nun schon über zwei Stunden am Frühstückstisch,
plaudern und nehmen, weil es so schön ist, auch noch eine vierte
Tasse Kaffee. Mein Lieblingsfrühstück an solchen Hafentagen
besteht aus Vollkorntoast, gebratenem Speck mit frischen Chillies und
Spiegeleiern. Latimer’s Landing, die Pier an der wir festgemacht
sind, ist dem Wetter entsprechend leergefegt. East London ist eine mittelgrosse
Stadt. Weder hässlich noch schön. Doch wir gehen nicht oft
nach draussen und leben zur Zeit wie Einsiedler. An dieser Pier liegen
wir sicher, haben Wasser- und Stromanschluss, tolle Duschen mit heissem
Wasser, und all das - dem Handelshafen sei dank - erst noch kostenlos!
Wir liegen mit der MON AMIE seit drei Wochen hier und führen ein
richtig faules Leben. Wir schlafen um die zwölf Stunden, nehmen
täglich in aller Ruhe drei Mahlzeiten zu uns, und neben den vielen
Büchern die wir zwischendurch noch lesen bleibt kaum Zeit übrig
für weitere Aktivitäten. Ja richtig aufraffen müssen wir
uns manchmal nur um duschen zu gehen, oder das Geschirr abzuwaschen...
ein toller Kontrast zum letzten Jahr in Richards Bay!
Selbstgewählt ist unser momentaner Müssiggang jedoch nicht.
Es weht fast die ganze Zeit aus Südwest. Und da ist an ein Auslaufen
an der berüchtigten „Wild Coast“ nicht zu denken. Dieser
Abschnitt Südafrikas wird aus mehreren Gründen Wildküste
genannt: er ist schroff und von abweisender Gestalt, die Gebirgskette
Transkei ist nur dünn besiedelt und wenig zivilisiert, und das Meer
bringt Wellenungetüme hervor, die sonst auf der Welt nur schwer
zu finden sind. Im ‚Segelrouten der Weltmeere‘ steht: „Durch
den nach Süden setzenden Agulhasstrom und meist unvorhersehbare
Wetterbedingungen wird das Segeln in diesem Gebiet sehr erschwert. Der
Agulhasstrom läuft an der 100-Faden-Linie und kann bis zu 6 Knoten
Geschwindigkeit erreichen. Ein Südweststurm kann in Verbindung mit
dem starken Südstrom riesige Seen von über 18 Metern aufbauen.
Das betreffende Gebiet hat unter Seglern schon viele Alpträume verursacht.“
Das schwierigste Stück der „Wild Coast“ ist zugleich
das längste. Von Durban nach East London, das sind knapp 300 Seemeilen.
Die Hauptschwierigkeit besteht darin, dass es keinerlei Schutz gibt auf
diesem Abschnitt. Kein Hafen, keine Bucht.
Für die geplanten zwei Segeltage, warteten wir in Durban auf ein
5-Tages-Wetterfenster. Einen Tag Reserve für langsame Fahrt, einen
Tag im Fall eines fahrtbehindernden Schadens am Schiff, und einen Tag
Reserve falls die nächste Kaltfront 24 Stunden früher als prognostiziert
kommen würde.
Der Nordostwind auf unserer Fahrt war stark, und ehe wir uns versahen,
jagten wir wie zwischen Richards Bay und Durban mit dem dritten Reff
dahin. Nach 40 Stunden Rauschefahrt liefen wir in East London ein. Ausser
Kleinigkeiten wie dem Riss des Genuafalls und einem zersplitterten Spinnakerbaum
passierte nicht viel. Kein grosses Abenteuer, einfach harte Arbeit.
Dass die im Buch beschriebenen Bedingungen nicht nur Segelbooten Probleme
bereiten können, erfahren wir noch in East London. Ein hundert Meter
langer Containertanker schlug im Südweststurm leck, verlor dabei
den Maschinenantrieb, wurde an die Küste geweht und strandete. Dabei
verlor er viele seiner geladenen Container. Es gibt nun ein Wrack mehr
an der „Wild Coast“ und in den UKW-Wetterberichten werden
die Segelyachten vor treibenden Containern in diesem Seegebiet gewarnt.
Am selben Nachmittag wird eine südafrikanische Yacht von der Küstenwache
in den Hafen hereingeschleppt. Sie segelte von Port Elizabeth nordwärts
nach East London. Trotz Wetterbericht mit Winden bis zu 40 Knoten lief
sie aus. „Von hinten ist das ja kein Problem, dachten wir“,
wie die Segler uns später erzählten. Ihr Schiff schlug im Sturm
mit dem Mast mehrere Male aufs Wasser. Danach schafften sie es nicht,
bei diesen enormen Bedingungen die Hafeneinfahrt aus eigener Kraft anzusteuern.
Völlig apathisch und unter Schock, in dünnen Regenjacken frierend
und ohne Rettungswesten, legten sie schliesslich am Latimer’s Landing
an. Sie waren so kaputt und sahen dabei aus wie ein Häufchen Elend,
dass sie nicht einmal mehr Leinen zum Anlegen bereit halten konnten.
Da die Wetterkarte für die weiteren Tage hinaus auf Südwestwind
hindeutete, entschlossen wir uns, die MON AMIE in East London stehen
zu lassen und eine Landreise zurück nach Richards Bay zu unternehmen.
Da stand noch unser kleines Auto. Wir hatten geplant, es jeweils nach
jeder Etappe wieder zu holen, um so die Küste Südafrikas zu
Wasser und zu Land entdecken zu können. So schnell wird sich für
uns die Möglichkeit nicht wieder ergeben, in einem fremden Land
ein Auto zu kaufen. Wir haben uns auch sagen lassen, dass die Autoverkaufspreise
in Kapstadt höher sind.
Wir buchten ein Ticket. 14 Busstunden und eine Übernachtung in
einer Jugendherberge später, waren wir wieder im altvertrauten Richards
Bay. Kaum waren wir auf dem Clubgelände, sahen wir die WATUSSI unserer
Freunde Alan und Anja am Zollsteg liegen. Das Schiff sah traurig aus
ohne seine beiden stolzen Masten. Fast zeitgleich mit uns hatten Alan
und Anja Richards Bay verlassen. Sie segelten nordwärts Richtung
Moçambique mit Fernziel Kenya. Nachdem sie den Hafen von Maputo
verliessen, gerieten sie in einen schweren Südweststurm. Sie entschieden
die Segel zu bergen und versuchten unter Motor zurück nach Maputo
zu gelangen. Die ketschgetakelte WATUSSI kenterte im schweren Seegang
und verlor beide Masten. Anja befand sich zu dem Zeitpunkt am Kartentisch,
und als sie nach dem Aufrichten der Yacht ins Cockpit stürzte, konnte
sie Alan nirgends entdecken! Doch plötzlich schälte er sich
unter dem Getümmel von Wanten und Fallen hervor. Anja fiel natürlich
ein Stein vom Herzen. Sie schafften es dann in diesen wilden Bedingungen
beide Masten zu kappen und zu versenken. Doch schon bald überhitzte
der Motor in den hohen Wellen und es blieb ihnen nichts anderes übrig,
als mit Notrigg in Küstennähe zu segeln und da auf 30 Meter
Tiefe manövrierunfähig zu ankern. Schon vorher lösten
sie ihre EPIRB-Satellitennotfunkboje aus, doch es sollte fast zwei Tage
dauern, bis sie von einem Suchflugzeug gefunden wurden. Von da an war
es für sie noch ein weiter Weg bis zurück nach Richards Bay.
Ein Schiff aus Maputo schleppte sie in den Hafen. Da mussten sie erst
das ganze Chaos im Innenschiff aufräumen, entsalzen und waschen,
den Motor reparieren, eine bessere Notbeseglung basteln, und sich schliesslich
mit einer gehörigen Portion Mut auf den 200-Seemeilen-Trip nach
Südafrika, zurück in die Zivilisation, machen!
Irgendwann an diesem Abend stellten wir unser kleines Zelt auf, das
bereits im Kofferraum unseres Autos bereit lag, und schliefen selig ein.
Der Südwestwind tobte wie gewöhnlich.
Beim ersten Tageslicht fuhren wir am nächsten Morgen los. Alles
ging gut, und wir hätten diese 800 Kilometer auch ereignislos durchfahren
können, wenn nicht irgendwo in der Transkei ein Affe aus dem Nichts
einfach über die Fahrbahn gerannt wäre. Er war so grau wie
der Asphalt und ich sah ihn erst, als er vor unseren Kühler hetzte.
Er war auf der Stelle tot, unsere Stossstange und das vordere Licht waren
im Eimer. Es tat uns sehr leid um das Tier. Aber solche Dinge gibt es
in Afrika, und dieses für uns Europäer doch ziemlich ungewöhnliche
Ereignis rückte den Ausdruck „Wild Coast“ nochmals in
ein ganz anderes Licht.
Ein paar Tage später kam das lang ersehnte Wetterfenster und wir
liefen aus, Richtung Port Elizabeth. Wir wollten diese Küste endlich
hinter uns bringen!
Die Fahrt glich im grossen und ganzen unserem bequemen Aufenthalt in
East London. Es fing unüblich ruhig an und wir segelten mit gemächlichen
vier Knoten dahin. Ungewohnt waren auch die hohen Temperaturen. Wann
sind wir zuletzt nackt auf dem Deck rumgelümmelt und dabei zufrieden
dahingesegelt? Irgendwann, irgendwo in Ostafrika!
Wir sahen ständig Delphine und auch einen Wal. Es war wunderschön.
Gegen Abend nahm der Wind dann aber zu und wir segelten die ganze Nacht
hindurch schnell Richtung Süden.
Auch ungewohnt war, dass wir die ganze Fahrt über nie reffen mussten.
Vor Port Elizabeth drehte uns der Wind bei der Ansteuerung auf die Nase.
Wir bargen die Segel und motorten noch zwei Stunden gegenan, was ein
guter Test für unsere revidierten Maschinen war und uns Vertrauen
gab.
Noch am selben Abend drehte der Wind bereits wieder auf Südwest. Sturmstärke.
Es war für uns ein Bombengefühl, sicher im Hafen zu liegen und
die „Wild Coast“ im Kielwasser der MON AMIE zu wissen!